
Schneller ist nicht immer besser und der Trend zur Entschleunigung erfasst langsam, aber sicher auch unsere Mobilität. Slow Mobility beeinflusst und bereichert in immer mehr Städten zahlreiche Bereiche – von der Stadtentwicklung bis zum Tourismus.
Winkende Menschen, pechschwarze Tunnel, grüne Wälder, schneebedeckte Berggipfel … und ein Paar parallel verlaufende Schienen. Für siebeneinhalb Stunden schaute rund ein Fünftel der norwegischen Bevölkerung einem Zug dabei zu, wie er die Strecke zwischen Oslo und Bergen zurücklegte. Fernsehen in Echtzeit – und das erste Beispiel für Slow TV flimmerte 2009 über die Bildschirme. Der „langsamen" Sendung sind seither weitere gefolgt: Ob ein herabbrennendes Kaminfeuer oder eine stundenlange Schifffahrt, im Norden feiert das Konzept einen Quotenerfolg nach dem anderen. Doch auch in unseren Breitengraden wird der Ruf nach Entschleunigung immer lauter. Von Slow Food über Slow Media bis zu Slow Business gibt es kaum einen Lebensbereich, in dem wir nicht den Wunsch verspüren, vom Gaspedal zu steigen. Auch, was unsere Mobilität betrifft: Slow Mobility lautet das Stichwort.
Die (Wieder-)Entdeckung der Langsamkeit
Ihren Anfang nahm die Slow-Bewegung in Italien Mitte der 1990er-Jahre als Slow-Food-Verein, der gegen Fast-Food-Konzerne mobil machte. Seither ist die Entschleunigung ein Schlagwort unzähliger Selbsthilfebücher, Seminare und Workshops geworden. Doch das Bedürfnis nach Entschleunigung ist nicht erst ein Phänomen der heutigen Zeit. Schon Konfuzius prägte 500 v. Chr. den Spruch „In der Ruhe liegt die Kraft". Die Schnelllebigkeit hat im digitalen Zeitalter jedoch eine ganz andere Dimension erreicht und ist für viele Menschen zu einer Belastung geworden, gegen die sich Widerstand regt. Schneller, effizienter, mehr? Dass der Fortschritt unabdingbar an Beschleunigung gekoppelt sein soll, wird mittlerweile nicht mehr nur von Umweltschützern und System-Kritikern hinterfragt. In unserer materiell gesättigten Gesellschaft ist nicht mehr der Besitz von Dingen, sondern die Verfügbarkeit und Qualität von (Lebens-)Zeit zum Ultimativum geworden. Anstatt den Terminkalender mit Aktivitäten vollzustopfen, nimmt man sich wieder Zeit. Zeit, um in Yogakursen Achtsamkeit für den eigenen Körper zu lernen oder Mandalas auszumalen. Sich bewusst auf nur eine Sache zu konzentrieren, macht vermeintlich Banales zum Genuss.
Was Slow Mobility bedeutet
Das gilt auch für die Fortbewegung, wie etwa Anhänger des Cycle Chic wissen. Mit dem Fahrrad statt mit dem Auto erlebt man die Stadt plötzlich ganz anders, denn die reduzierte Geschwindigkeit erweitert das Blickfeld. Mit Schneckentempo hat Slow Mobility – trotz des Kriechtiers im Logo vieler Slow-Initiativen – aber wenig zu tun. Im ersten Schritt geht es nämlich darum zu hinterfragen, ob das Unterwegs-Sein überhaupt notwendig ist. Dank innovativer Technologien wie Virtual Reality rücken Businessreisen ohne tatsächlichen Ortswechsel immer näher. Das Jetsetter-Leben könnte dadurch an Status einbüßen, so wie im umweltbewussten Schweden. Dort macht „flygskam", also die „Flugscham", unter eigenem Hashtag auf Social Media von sich reden. Die Bahngesellschaft erlebt hingegen Buchungssteigerungen von über 100 Prozent. Es geht also nicht mehr darum, möglichst schnell ans Ziel zu kommen, sondern möglichst „gut". In Hinblick auf die Zukunft bedeutet das auch: möglichst umweltschonend. In diesem Punkt nicht zu übertreffen sind nicht-motorisierte, von
Muskelkraft abhängige Fortbewegungsarten, die unter dem Begriff Slow Traffic zusammengefasst werden. Die Schweizer Verkehrspolitik hat dafür das Konzept des „Langsamverkehrs" entwickelt. Damit sollen nicht nur CO2-Emissionen und Lärm reduziert, sondern auch das Verkehrssystem und die öffentlichen Kassen entlastet werden.
Wie die Entschleunigung unsere Städte verändert
Verzicht kann also auch Gewinn bringen – und muss das sogar, um Anreize für den Wechsel vom Auto zum Fahrrad, Zufußgehen oder öffentlichen Verkehr zu schaffen. Zahlreiche Städte tun das bereits, indem sie Rad-Highways, Fußgängerzonen und Tempolimits einrichten oder die Innenstädte für den Pkw-Individualverkehr sperren. Manche Viertel, wie etwa die autofreie Mustersiedlung in Wien-Floridsdorf oder Vauban in Freiburg, gehen sogar noch einen Schritt weiter und schaffen das Auto gänzlich ab. Die Wege sollen wieder kürzer und die täglichen Bedürfnisse in Nachbarschaftsnähe erfüllt werden. Slow Mobility hat also viel mit Stadtentwicklung zu tun. Das Ziel der Entschleunigung ist, die urbane Lebensqualität zu steigern. Ein entsprechendes Maßnahmenpaket hat die Cittàslow-Bewegung entwickelt. Aktuell erfüllen 252 Städte den Kriterienkatalog und dürfen sich Cittàslow nennen. Umweltfreundliche Verkehrslösungen gehören ebenso dazu wie die Nutzung erneuerbarer Energien und die Förderung lokaler Produkte und Traditionen. Das urtümliche Stadtbild und somit der individuelle Charakter sollen damit erhalten werden.
Slow Travel: Der Weg ist das Ziel
Für den Tourismus macht das solche Städte wiederum attraktiver – und auch vor dem Reisen selbst macht die Entschleunigung nicht halt. Slow Travel versteht das Reisen als Erleben abseits vom Massentourismus und dem hektischen „Sammeln" möglichst vieler Sehenswürdigkeiten. Ob Road Trip mit Zelt, Schweigeurlaub im Kloster oder Selbstfindungsaufenthalt im Yoga-Retreat: Diese Art des Reisens soll die Erholung bringen, nach der wir uns alle sehnen. Man nimmt sich Zeit für sich, das Land, die Leute und die Kultur. Slow Travel ist eine Einstellung und weniger an ein Transportmittel gebunden. Doch wer gemächlich per Bahn, Bus oder Schiff anreist und die Landschaft langsam an sich vorbeiziehen sieht, kommt auch sanfter und stressfreier im Urlaub an – so wie beim autofreien Urlaub in Werfenweng. Während viele Wirtschaftsbereiche also noch zum Großteil an der beschleunigten Wachstumsphilosophie festhalten, kann die Freizeitindustrie zum Vorreiter auf dem Weg zu einer neuen, entschleunigten Mobilität werden.